Wer braucht welche Daten? Inverse Transparenz als Enabler für neue Führungsmodelle

Inverse Transparenz kann in der digitalen Arbeitswelt eine neue Führungskultur voranbringen, stellt Führungskräfte aber auch vor große Herausforderungen. Hiervon sind Maren Gierlich-Joas und Rahild Neuburger überzeugt. Die beiden LMU-Wissenschaftlerinnen begleiten das Betriebliche Praxislaboratorium bei der Software AG. Hier sprechen sie über die Bedeutung des Konzepts für ein neues Miteinander zwischen Beschäftigten und Führungskräften.

Jutta Witte: Frau Gierlich-Joas, Frau Neuburger, Sie blicken aus der Perspektive der Wirtschaftsinformatik und Betriebswirtschaftslehre auf Inverse Transparenz. Welche Fragen interessieren Sie dabei?

Maren Gierlich-Joas: Ein wichtiger Fokus unseres Instituts richtet sich auf das Management der digitalen Transformation. Wir erforschen die Wechselwirkungen in den Unternehmen und suchen nach neuen Konzepten für Führung und Management. Und genau das interessiert uns auch mit Blick auf Inverse Transparenz. Wir wollen wissen, welche Chancen dieser beteiligungsorientierte Ansatz für Führungskräfte in der Praxis bietet und welche neuen Anforderungen er mit sich bringt.

Rahild Neuburger: In der digitalen Arbeitswelt werden datengetriebene Geschäftsmodelle und Prozesse immer wichtiger und dies verändert die Rolle der Beschäftigten, aber auch der Führungskräfte. Inverse Transparenz ist ein Instrument, das beide Rollen in eine positive Richtung verändern könnte, wenn es die Beschäftigten im Transformationsprozess empowert, ohne die Führungskräfte zu schwächen. Insofern geht es auch darum, ein Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Selbstorganisation aufzulösen.

 

Aushandlungsprozesse partizipativ gestalten

 

Wie kann Inverse Transparenz Führung verändern?

Maren Gierlich-Joas: Die Idee, dass wir Daten für beide Seiten zugänglich machen müssen, ist ja nicht neu. Hierfür gibt es bereits kommerzielle Tools. Tatsächlich aber liegt der Zugriff auf die Daten nach wie vor im „Herrschaftsbereich“ des Managements und der Führungskräfte. Es entsteht eine Informationsasymmetrie, die alles andere als förderlich ist für die Akzeptanz. Die Mitarbeitenden haben momentan oft nur sehr kleine Handlungsspielräume, um das zu ändern. Im Extremfall müssen sie kündigen. Mit Inverser Transparenz könnten wir an der Stelle viel bewirken, um die Beschäftigten an der Nutzung solcher Tools und der Informationen, die sie erzeugen, zu beteiligen. Dies würde dann zwangsläufig auch zu einem anderen Verständnis von Führung führen.

Rahild Neuburger: Die Herausforderungen, die mit der digitalen Transformation einhergehen, sind ja ohnehin so groß, dass eine Führungskraft sie nicht mehr allein bewältigen kann – auch unabhängig von der Diskussion um die Daten. Führungskräfte sind vielmehr darauf angewiesen, dass Mitarbeitende mit ihrem Know-how und ihrem Erfahrungswissen stärker in Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Und das bedeutet, dass man als Vorgesetzte oder Vorgesetzter diesen Menschen natürlich partizipativer gegenüberstehen muss. Inverse Transparenz könnte stärker zu Aushandlungsprozessen zwischen Mitarbeitenden und Führungskräften auf Augenhöhe führen.

 

“Inverse Transparenz könnte stärker zu Aushandlungsprozessen zwischen Mitarbeitenden und Führungskräften auf Augenhöhe führen.”

Rahild Neuburger

 

Inverse Transparenz greifbar machen

 

Als Use Case für Inverse Transparenz wird im Praxislaboratorium der Software AG ein Skillmanagementsystem diskutiert – ein kontroverses Thema. Wie kann man ein solches System für alle gleichberechtigt gestalten?

Rahild Neuburger: Wir hätten es hier mit einem System zu tun, das sich automatisch selbst speisen könnte – aus den prozessbezogenen Daten, die bei der Nutzung des Ticketing-Systems Jira angelegt und bearbeitet werden. Das ist wie eine Datenpipeline, die sich ständig von allein füllt. Aber: Wird sie zu einem Einfallstor für Leistungskontrolle oder fördert sie Weiterbildung, Qualifizierung und Wissenstransfer? Und jetzt kommt Inverse Transparenz ins Spiel. Führungskräfte brauchen diese Daten vielleicht für ihr Qualifizierungsprogramm; Mitarbeitende, um sich weiterzuentwickeln. Dann muss man gemeinsam klären: Welche Daten braucht wer wofür? Das braucht Vertrauen, das Führungskräfte ganz wesentlich mit aufbauen müssen.

Maren Gierlich-Joas: Das Skillmanagementsystem ist ein super Anwendungsszenario, das die Potenziale von Inverser Transparenz, aber auch die Gestaltungsherausforderungen wirklich greifbar macht. Und das Labteam hat auf der Basis der Daten ja noch weitere spannende Use Cases entwickelt, die sehr konkret auf die Praxis heruntergebrochen sind – zum Beispiel eine „Supporter-Suche“. Hier können Mitarbeitende bei offenen Fragen auf Basis von Jira-Tickets die richtigen Anprechpartnerinnen und -partner finden und so die Problemlösung beschleunigen.

 

“Das Skillmanagementsystem ist ein super Anwendungsszenario, das die Potenziale von Inverser Transparenz, aber auch die Gestaltungsherausforderungen wirklich greifbar macht.”

Maren Gierlich-Joas

 

Inverse Transparenz in die Breite tragen

 

Wenn wir über die Software AG hinausschauen: Welche Bedeutung hat ein Konzept wie Inverse Transparenz für andere Unternehmen?

Maren Gierlich-Joas: Unsere Studien in deutschen und europäischen Unternehmen zeigen, dass datengetriebene Transparenz und Empowerment weit oben auf der Agenda stehen. Und das Interesse an neuen Konzepten wie Inverse Transparenz ist riesig, um das zu gestalten. Das Lab fällt also auf fruchtbaren Boden. Deswegen wollen wir, wenn wir es erfolgreich zu Ende geführt haben, Inverse Transparenz in die Breite tragen und im nächsten Schritt die Machbarkeit in mittelständischen Unternehmen erproben.

Rahild Neuburger: Ich glaube, prinzipiell könnte man Inverse Transparenz überall einsetzen. Denn es ist ein Konzept, das den Umgang zwischen Mitarbeitenden und Führungskräften verbessert. Das geht aber nur, wenn auch die Führungskräfte die positiven Effekte sehen, Kontrolle abgeben und ihre Rolle neu finden. Es steht ein bestimmtes Menschenbild dahinter, das alle teilen müssen. 

Maren Gierlich-Joas

Maren Gierlich-Joas

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der LMU Munich School of Management. Ihre Forschung fokussiert sich derzeit auf das digitale Management. Studiert hat sie Wirtschaftsingenieurwesen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).

Rahild Neuburger

Rahild Neuburger

arbeitet an der LMU Munich School of Management und ist Geschäftsführerin des MÜNCHNER KREIS. Ihr Forschungsfokus liegt auf den Auswirkungen von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz auf Arbeits- und Organisationsstrukturen sowie Kompetenzen.