Innovationskultur braucht Vertrauen und Empowerment: Christian Gengenbach und Tobias Kämpf im Gespräch

Wie schafft man es, die Transparenz, die mit der Erhebung von Beschäftigtendaten aus Arbeitsprozessen entsteht, zum Wohle der Mitarbeitenden und ihrer Teams zu nutzen? Diese Frage beschäftigt den Softwareexperten Christian Gengenbach und den Soziologen Tobias Kämpf in ihrem aktuellen Forschungsvorhaben „Inverse Transparenz“. Ein Gespräch über ein vielversprechendes Konzept zum Umgang mit Daten in der digitalen Arbeitswelt und ein Praxislaboratorium, das zeigt, wie die Ideen dahinter Wirklichkeit werden können.

Jutta Witte: Herr Gengenbach, Herr Kämpf, Sie haben schon einige Projekte zur Zukunft der Arbeit gemeinsam gestemmt. Was hat Sie diesmal zusammengeführt?

Tobias Kämpf: Wieder einmal der fundamentale Umbruch, den wir im Zuge der digitalen Transformation schon lange erleben. Aktuell entsteht mit diesem Paradigmenwechsel eine neue Form des Wirtschaftens, die wir als Informationsökonomie bezeichnen. Was sie im Kern ausmacht, ist, dass Daten zum zentralen Rohstoff und zum Ausgangspunkt von Wertschöpfung werden. Das führt auch in der Arbeitswelt zu einer neuen Qualität von Transparenz – eine zweischneidige Entwicklung. Auf der einen Seite entstehen neue Chancen für die Gestaltung kollaborativer Arbeitsprozesse und die Entwicklung von Innovationen. Auf der anderen Seite droht Kontrolle und Überwachung in völlig neuer Qualität. Uns treibt deswegen die Frage um, wie wir die Daten und die Transparenz, die sie in der Arbeitswelt erzeugen, positiv nutzen und damit Arbeitsprozesse im Sinne der Menschen verbessern können.

Christian Gengenbach: Das ist ein Punkt, der uns in der Software AG zunehmend beschäftigt. Wir arbeiten schon lange mit dem Ticketingsystem Jira und Confluence, einer Software für den Wissensaustausch. Beide Systeme sind die Grundlage dafür, dass 1.200 Menschen an elf Standorten weltweit knapp 100 Produkte, die gleichzeitig releast werden, zusammen entwickeln können. Dabei fallen eine Menge Daten an, die Rückschlüsse auf die Beschäftigten und ihre Arbeit zulassen. Deswegen zieht eine entsprechende Betriebsvereinbarung eine klare rote Linie. Diese ]Daten dürfen ausgewertet werden, um den agilen Entwicklungsprozess zu managen, aber nicht für Leistungsbeurteilungen oder Verhaltenskontrollen. Das ist Konsens und schafft Vertrauen. Dennoch haben die Mitarbeitenden großes Interesse zu erfahren, welche Daten von ihnen zu welchem Zweck erhoben werden. In den Bereichen R & D und Support fragen wir uns mittlerweile, ob unsere Regelungen noch zeitgemäß sind und wie wir diese Daten vielleicht noch anders sinnvoll nutzen können.

 

Empowerment für bessere Arbeit im Team

 

Warum reichen bestehende Regularien für den Beschäftigtendatenschutz nicht aus?

Tobias Kämpf: Natürlich sind diese Regularien heute wichtiger denn je. Aber wir müssen weiterdenken. Das Prinzip „Je weniger Daten, umso besser“ ist immer schwieriger durchzusetzen und funktioniert für sich allein immer weniger in einer Informationsökonomie. Deswegen verfolgen wir das Konzept der Inversen Transparenz und drehen damit praktisch den Spieß um. Wir setzen dabei auf das Empowerment der Beschäftigten und die Stärkung ihrer Datensouveränität. Zwei Ebenen sind hier wesentlich: Zum einen wollen wir die Beschäftigten dazu befähigen, dass sie nach dem Prinzip „Watch the watcher“ wissen, welche Daten über sie verwendet werden. Zum anderen sollen sie diese Daten auch selbst nutzen können – zum Beispiel, um die eigenen Arbeitsprozesse besser zu gestalten.

Herr Gengenbach, wie wollen die beiden Labteams diese Idee in die Praxis bringen?

Christian Gengenbach: Wir fokussieren uns im Lab auf iTrac. Das ist eine Software, die auf Jira basiert. Jira dokumentiert im Grunde jeden einzelnen Schritt eines Tickets, also Bearbeitungsvorgangs. iTrac sorgt dabei dafür, dass Aufgaben erfasst und priorisiert, Fehler gefunden und Probleme behoben werden. Die hierbei anfallenden Daten können alle einsehen. Wir haben uns also gefragt: Wie können wir dieses Trackingsystem nutzen, damit die Beschäftigten die Zusammenarbeit und den Wissensaustausch in ihren Teams in Eigenregie verbessern können? Hierfür prüfen, entwickeln und analysieren wir gerade unterschiedliche Anwendungsfälle, die auf iTrac basieren, unter anderem eine Skill-Datenbank, mit der man eine Expertensuche verknüpfen kann. Das sind Blaupausen für den Einsatz Inverser Transparenz, die direkt aus der Praxis stammen.

 

“Das Prinzip „Je weniger Daten, umso besser“ ist immer schwieriger durchzusetzen und funktioniert für sich allein immer weniger in einer Informationsökonomie.”

Tobias Kämpf

 

Transparenz und Vertrauen gehören zusammen

 

Herr Kämpf, geht das in Richtung der neuen Innovationskultur, die Sie gerade angesprochen haben?

Tobias Kämpf: Auf alle Fälle. Lange hat die industriell geprägte deutsche Wirtschaft Daten eher als ein Nebenprodukt der Wertschöpfung betrachtet. Daten sind in Zukunft aber der zentrale Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer Produkte und neuer Dienstleistungen. Ganz wichtig ist dabei: Man muss sich auf die Transparenz, die diese Innovationskultur prägt, auch einlassen können. Das heißt, wenn man so etwas breit ausrollen möchte, braucht man auch eine besondere Vertrauenskultur. Transparenz und Vertrauen gehören zusammen. Hierfür ist die Software AG ein schönes Beispiel.

Christian Gengenbach: Ohne unsere Vertrauenskultur, die über die Jahre gewachsen ist, hätten wir das Praxislaboratorium gar nicht durchführen können. Sie hat uns vieles ermöglicht. Angefangen von den vielen freiwilligen Interviewpartnern und ‑partnerinnen, die mit Tobias Kämpf und seinem Forschungsteam sehr offen gesprochen haben, bis hin zum Praxislaboratorium, wo wir eine Beteiligung haben, die mich anfangs selbst überrascht hat. Und das hat maßgeblich etwas damit zu tun, dass die Leute keine Angst haben, sich in einem solchen Projekt zu engagieren.

 

“Ohne unsere Vertrauenskultur, die über die Jahre gewachsen ist, hätten wir das Praxislaboratorium gar nicht durchführen können.”

Christian Gengenbach

 

Ergebnisoffen neue Fragen kreieren

 

Warum ist für Sie das Praxislaboratorium das richtige Instrument, um das Konzept der Inversen Transparenz in die Unternehmen zu bringen?

Christian Gengenbach: Zu Beginn des Projektes war ich tatsächlich unsicher. Wir waren alle nicht daran gewöhnt, dass wir Ziele und Themen nicht von Anfang an klar definieren, sondern ergebnisoffen in einen solchen Gestaltungsprozess gehen. Inzwischen glaube ich, dass genau dieses Kreieren von neuen Fragen und Ansatzpunkten für Gestaltung den entscheidenden Effekt bringt. Ein Praxislaboratorium regt nicht nur zum Denken, sondern auch zum konkreten teamorientierten Handeln an. Das schafft man nicht mit Brainstormings, Workshops oder Diskussionsrunden.

Tobias Kämpf: Wir wollen den Datenschatz von unten heben, unter Beteiligung der Beschäftigten, agil und sozialpartnerschaftlich, und ihn für die Menschen im Unternehmen öffnen. Und genau das ist die Grundidee eines solchen Labs. Wir handeln nicht über die Köpfe der Menschen hinweg, sondern befähigen sie, selbst etwas Neues auszuprobieren. Wir können die digitale Arbeitswelt nicht im Reagenzglas oder im Elfenbeinturm der Wissenschaft gestalten. Hierfür brauchen wir die Menschen, die konkret betroffen sind.

 

“Wir wollen den Datenschatz von unten heben, unter Beteiligung der Beschäftigten, agil und sozialpartnerschaftlich, und ihn für die Menschen im Unternehmen öffnen.”

Tobias Kämpf

 

Use Cases, die überzeugen

 

Sie sind jetzt am Ende des zweiten Sprints angelangt. Wie ist Ihre Zwischenbilanz?

Tobias Kämpf: Die Labteams sind inzwischen sehr weit und haben konkrete Use Cases für Inverse Transparenz entwickelt, die nicht nur überzeugen, sondern auch funktionieren. Sie haben die Idee, die wir als Forschende entwickelt haben, in einer Lebendigkeit konkretisiert und weiterentwickelt, wie wir das von außen niemals geschafft hätten.

Und das unter erschwerten Bedingungen.

Christian Gengenbach: Genau. Wir arbeiten hier nicht nur unter Coronabedingungen, sondern die Software AG musste im vergangenen Herbst auch einen Hackerangriff bewältigen. Beides hat die Motivation und das Engagement der beiden Labteams nicht beeinträchtigt. Ganz im Gegenteil. Am Anfang haben wir uns oft gefragt, ob wir das alles auch online hinbekommen. Tatsächlich hat das Virtuelle unsere Zusammenarbeit immer weiter verbessert.

Tobias Kämpf: Andere Unternehmen hätten in dieser Situation das Projekt wahrscheinlich abgebrochen. So ein Lab ist ja für sich schon ein Experiment. Das Team muss sich als Gruppe finden, seinen Freiraum nutzen lernen und eine Eigendynamik entwickeln. Das ist nicht trivial. Und das alles hat trotz schwieriger Umstände super funktioniert.

Christian Gengenbach

Christian Gengenbach

ist Vice President Research & Development bei der Software AG und leitet in dieser Funktion deutsche und europäische Forschungsprojekte. Der studierte Informatiker arbeitet seit mehr als dreißig Jahren in verschiedenen Funktionen und Bereichen und in einem internationalen Umfeld für die SAG. Die durch die Globalisierung und die digitale Transformation forcierten Veränderungen in der Arbeitswelt gestaltet er seit langem aktiv mit.

Tobias Kämpf

Tobias Kämpf

ist Wissenschaftler am ISF München und Privatdozent an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Als Soziologe forscht er international zur Digitalisierung und dem Wandel moderner Arbeitsgesellschaften. Seine Forschungsgebiete umfassen den Umbruch in Unternehmen, digitale Geschäftsmodelle, neue agile Arbeitsformen und deren Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen sowie die Folgen für Beschäftigte.