Vom Konzept zum Use Case: Wie Mitarbeitende der Software AG Inverse Transparenz in die Praxis bringen 

Als das Praxislaboratorium „Inverse Transparenz“ der Software AG im August 2020 an den Start ging, wusste niemand, wo die Reise hinführen würde. Inzwischen haben die Softwareexpertinnen und
-experten, die sich hier engagieren, entscheidende Meilensteine erreicht. Es zeigt sich: Die im Arbeitsprozess anfallenden Daten souverän zu nutzen ist voraussetzungsvoll, aber es funktioniert. Erste Anwendungsszenarien liegen bereits auf dem Tisch. Ein Blick in die Arbeit von zwei Labteams, die selbst die COVID-19-Pandemie nicht aus dem Konzept bringt.

Reportage von Jutta Witte

Angenommen, eine Supportmitarbeiterin namens Judith bekommt über das Ticketing-System Jira einen Vorgang zur Bearbeitung, der sich um die Schnittstelle zwischen der Unternehmenssoftware ARIS und der Cloudplattform Cumulocity IoT dreht. Das Thema ist für sie neu und sie sucht in der Software AG nach Kolleginnen und Kollegen, die sich bereits besser damit auskennen. Jira würde eine solche Expertensuche möglich machen. Judith könnte auf der Basis der dort erzeugten Daten fragen, wer bereits Tickets zu den Themen ARIS und Cumulocity IoT bearbeitet hat, und dann Kontakt aufnehmen. Denn das Tool dokumentiert nicht nur jeden Vorgang, sondern auch die Menschen, die damit zu tun haben, und wie sie ihn bearbeiten. Alle Aufgaben, Arbeitsschritte und auch Fehler sind hier dokumentiert und können personal zugeordnet werden. Macht dies Judith und alle anderen im Support zu „gläsernen Mitarbeitenden“, die laufend getrackt werden? Oder bietet die Transparenz, die Jira herstellt, ihnen neue Möglichkeiten, die eigene Arbeit und die des gesamten Teams besser zu gestalten?  

 

Ein Gestaltungsdilemma auflösen

 

Der Use Case „Supporter-Suche“, der im Rahmen des Betrieblichen Praxislaboratoriums „Inverse Transparenz“ von Beschäftigten der Software AG entwickelt wurde, ist nicht irgendein theoretisches Szenario. Er basiert auf den konkreten Arbeitserfahrungen der Beteiligten. Und er veranschaulicht gut, welches Gestaltungsdilemma die datengetriebene Transparenz in der Arbeitswelt hervorruft. Das Konzept der Inversen Transparenz könnte dieses Dilemma auflösen. Denn es ermöglicht den Beschäftigten zum einen, die Erhebung und Nutzung von Daten nachzuvollziehen, zu kontrollieren und zu problematisieren. Zum anderen empowert es die Menschen konsequent dazu, die im Arbeitsprozess anfallenden Daten souverän zu nutzen. Die beiden Labteams der SAG wollen diese Idee in die betriebliche Praxis übertragen – eine komplexe Aufgabe. Wer die Diskussionen im Laboratorium verfolgt, bekommt schnell ein Gefühl davon, wie vielschichtig die Fragen sind, die auftauchen, wenn man die intelligente Nutzung von Daten in Einklang bringen will mit dem Schutz der Beschäftigtendaten. Es geht um weit mehr als um technische Herausforderungen. Im Raum stehen auch juristische, soziale und nicht zuletzt unternehmenspolitische Themen.

Was motiviert Menschen, die in der Forschung und Entwicklung und im Kundendienst eines global aufgestellten Softwarekonzerns arbeiten, sich an einem solchen Projekt zu beteiligen? Christopher Weiß, seit Anfang 2020 Werkstudent der Software AG im Bereich Forschung, nennt zwei Gründe. In seinem Masterstudium ist er an den Schnittstellen zwischen Psychologie, Informatik und Soziologie unterwegs. „Das Lab trifft genau meine Interessen. Und ich finde es spannend, das Thema Datenschutz mit der Welt der Wirtschaft zu verknüpfen“, sagt der Werkstudent. Juliane Harbarth und Paul Langer arbeiten schon lange für die Software AG. Sie gehören zu denen, die sich Gedanken darüber machen, welche Informationen das Ticketing-System Jira für wen offenlegen kann. Sie wissen, dass es trotz klarer Regelungen zwischen Betriebsrat und Management immer wieder Unsicherheiten gibt, für welche Zwecke diese Daten verwendet werden. Das Lab bietet ihnen jetzt die Möglichkeit, daran mitzuarbeiten, dass im Interesse der Beschäftigten, aber auch besserer Produkte und Services mehr „von unten nach oben“ geschaut werden kann als bislang.

 

Trackingtool iTrac unter der Lupe

 

Die Bereiche R & D und Support der Software AG arbeiten bereits seit Jahren mit Jira und auch mit Confluence, einer Software, mit der die Mitarbeitenden ihr Wissen teilen können. Es sind Systeme, die die Datenpipeline im Unternehmen tagtäglich automatisch weiter füllen. Eine Betriebsvereinbarung legt klar fest, dass diese Daten nicht für Leistungsbeurteilungen herangezogen werden dürfen. „Es ist in unserem Bereich immer ein Spagat, den Datenschutz so zu gestalten, dass die Menschen geschützt sind und die Arbeit trotzdem funktioniert“, berichtet Klotilda Muca, Betriebsratschefin am Standort Saarbrücken. Die Daten seien zwar prinzipiell für alle einsehbar. Aber nach dem Prinzip „Watch the Watcher“ nachvollziehen zu können, wer sie sich angeschaut habe, könne für die Mitarbeitenden ein echter Mehrwert sein, sagt Muca. „Gut implementiert könnte ein System, das diese Inverse Transparenz ermöglicht, mit Blick auf die Datennutzung das Vertrauen und die Akzeptanz in allen Bereichen weiter steigern.“

 

“Es ist in unserem Bereich immer ein Spagat, den Datenschutz so zu gestalten, dass die Menschen geschützt sind und die Arbeit trotzdem funktioniert.”

Klotilda Muca

 

Als wichtigste Stellschraube für die Entwicklung eines solchen Systems haben die zehn Teilnehmenden des Praxislaboratoriums ein in Jira integriertes Tool identifiziert. iTrac sorgt dafür, dass Aufgaben erfasst und priorisiert werden. Es plant die Arbeitsschritte und findet die Fehler. Dieses Trackingsystem nimmt das Lab, aufgeteilt in zwei Teams, genauer unter die Lupe. Das Ziel: Anknüpfungspunkte finden für die Umsetzung von Inverser Transparenz. Dabei richtet Team 1 den Fokus vor allem auf die Folgen eines solchen Konzepts für die Menschen und die Unternehmens- und Führungskultur. Und Team 2 nähert sich dem Thema von der praktischen Seite. Ein Spiegelsystem des Software-AG-internen iTrac bildet die technische Grundlage, um im ersten Schritt die Erhebung von Daten analysieren zu können und im zweiten Schritt davon ausgehend einen Prototyp zu entwickeln, der die Nutzung von Daten protokolliert und für Beschäftigte nachvollziehbar macht.

 

Kassensturz zum Thema Transparenz

 

„Wir wollen wissen, welche Erwartungen, Ängste und Hoffnungen die Beschäftigten mit Inverser Transparenz verbinden“, berichtet Christopher Weiß als Vertreter von Team 1. Was bedeutet es für die Kolleginnen und Kollegen, wenn entsprechende Systeme im Unternehmen eingeführt werden? Wie muss sich dann möglicherweise die Führungskultur verändern? Als Blaupause für diese Überlegungen dient eine Skilldatenbank mit integrierter Expertensuche, die auf der Basis von iTrac aufgebaut werden könnte. Mit Blick auf die Herausforderungen der digitalen Transformation wäre dies ein attraktives Tool – zum einen für das Management, das die Qualifikation seiner Mitarbeitenden im Auge behalten und weiterentwickeln muss, zum anderen aber auch für Entwicklerteams, die in der digitalen Arbeitswelt kollaborativ und agil zusammenarbeiten und darauf angewiesen sind, Wissen bereichsübergreifend zu teilen. Das Beispiel zeigt, dass Daten in der Arbeitswelt allen Parteien nützen können – vorausgesetzt, Zugriff und Verwendung sind klar geregelt sowie durch kollektive Rechte und eine vertrauensvolle Unternehmenskultur abgesichert. Wie stehen Mitarbeitende und Führungskräfte zu dieser Idee? Um das zu klären, hat Team 1 in den Bereichen R & D und Support einen „Kassensturz“ zum Thema Transparenz gemacht. Eine repräsentative Umfrage soll zeigen, wie die Befragten die Themen Datenschutz und Transparenz bei der Software AG reflektieren, wie sie die Führungskultur im Unternehmen beurteilen und ob sie ein Skillmanagementsystem sinnvoll finden.

 

“Wir wollen wissen, welche Erwartungen, Ängste und Hoffnungen die Beschäftigten mit Inverser Transparenz verbinden.”

Christopher Weiß 

 

Vom Gedankenspiel in die Anwendung

 

Die Idee einer Expertensuche will Team 2 auf einen spezifischen Anwendungsfall übertragen. Mit der „Supporter-Suche“ ist ein Use Case entstanden, der konkret am Arbeitsalltag der Kolleginnen und Kollegen in den Bereichen R & D und Support andockt. Darüber hinaus liegen drei weitere iTrac-basierte Anwendungsszenarien für Inverse Transparenz auf dem Tisch. Zum einen die Herstellung von Erstkontakten zu Mitarbeitenden, die das gleiche Ticket bearbeiten, mit dem Ziel, deren Arbeitsschritte besser nachvollziehen zu können. Zum zweiten die Offenlegung, welche Teams wie von welchem „Blocker“ betroffen sind, also von Dingen, die sie an der Ausführung ihrer Arbeit hindern und möglicherweise die Ursache für Verzögerungen sind – ein Tool, mit dem man Teams in die Lage versetzen könnte, die Integration und Auslieferung von Software zu verbessern. Zum dritten der sogenannte Schufa-Fall: Mittels einer neuen Software soll jeder und jede einen Report erstellen können, der – ähnlich wie bei einer Schufa-Selbstauskunft – Aufschluss darüber gibt, welche Informationen eine Führungskraft aus den jeweiligen Daten ableiten kann. Beschäftigte können so Informationsasymmetrien abbauen und Führungskräften auf Augenhöhe begegnen. Ein erster Prototyp für das Tool steht bereits.

So wird die anfangs sehr abstrakte Idee der Inversen Transparenz Zug um Zug konkreter. Selbstverständlich ist es nicht, dass die Teams so weit gekommen sind. Denn ein Betriebliches Praxislaboratorium ist immer wieder ein Experiment für sich. Als strategisches Instrument für die Gestaltung der digitalen Arbeitswelt am ISF München entwickelt, ist es bereits in verschiedenen Branchen zum Einsatz gekommen: von der Elektroindustrie über den Finanzdienstleistungssektor bis hin zur Automobilbranche. Der Rahmen ist immer gleich. Die Labs arbeiten agil und in Eigenregie nach der Scrum-Methode in drei achtwöchigen Sprints. Nach jedem Sprint holen sie das Feedback des Lenkungskreises ein, eines sozialpartnerschaftlich besetzten Gremiums auf Managementebene. Dennoch ist kein Lab wie das andere. Welche Themen im Fokus stehen, wie sie bearbeitet und erprobt werden, liegt allein in den Händen des Teams. Die beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen begleiten die Labs „nur“ als Beratende, Moderatoren und Coaches.

Praxislaboratorium @Software AG: So funktioniert es

Ein Lab geht online

Für einige im Software-AG-Lab bedeutete diese neue Form der beteiligungsorientierten Gestaltung einen Sprung ins kalte Wasser. Zum einen, weil sie als Softwareentwickler und -entwicklerinnen plötzlich Teil eines Forschungsvorhabens wurden, das nicht primär technisch ausgerichtet, sondern vor allem sozialwissenschaftlich getrieben ist. Zum anderen, weil jedes Labteam sich neu finden muss: Es steht vor der Aufgabe, eine eigene Dynamik und Routinen für die Zusammenarbeit zu finden und sein Arbeitsprogramm immer wieder neu zu entwickeln. Eine echte Herausforderung – vor allem In Pandemiezeiten. „Ich habe gedacht: So ein Lab – während Corona – mutige Sache“, erinnert sich Christopher Weiß. Ein halbes Jahr haben die Akteurinnen und Akteure investiert, um ein Gestaltungsinstrument, das bislang immer von Präsenz gelebt hat, in den virtuellen Raum zu verlegen. Das zweitägige Kick-off, bei dem die Beschäftigten der Software AG ihre gemeinsame Vision entwarfen und die entscheidenden Weichen für die Gestaltungsarbeit der nächsten Monate stellten, lief komplett über die Kollaborationsplattform Mural. Heute ist für die beiden Teams, deren Mitglieder sich zum Teil vorher nicht einmal kannten, die kontinuierliche Online-Zusammenarbeit selbstverständlich.

Aktuell laufen die Vorbereitungen für Sprint 3. In den kommenden acht Wochen wird Team 1 die Ergebnisse der Umfrage auswerten, interpretieren, aufbereiten und in einem Workshop mit Führungskräften, Betriebsräten und Beschäftigten reflektieren. Bei Team 2 stehen die Erprobung und Optimierung des Schufa-Prototyps und die weitere Ausarbeitung der anderen Use-Cases auf der Agenda. Ende Juni soll das Lab zu Ende gehen. Doch schon jetzt ist klar: Den zehn Frauen und Männern, die das Lab vorantreiben, haben sich nicht nur völlig neue Perspektiven auf den Umgang mit Daten geöffnet. Sie haben aus ihren Arbeitsbereichen heraus auch offene Fragen auf die Agenda gesetzt, an die am Anfang niemand gedacht hat, deren Beantwortung aber vielleicht dazu beitragen kann, die Vertrauenskultur in der Software AG insgesamt weiterzuentwickeln. Weitergebracht hat das Lab nicht zuletzt auch jede und jeden persönlich: „Man lernt viel über sich selbst“, sagt Juliane Harbarth. Insofern ist Forschung für sie auch immer Inspiration.

 

“Man lernt viel über sich selbst.”

Juliane Haberth

Praxislaboratorium @Software AG:

Die Gestalter/-innen aus den LabTeams